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Firmensitz Otte

Büro- und Austellungsgebäude in Siek bei Hamburg, Deutschland

Von Klaus Dieter Weiss

„Der nachrückenden Generation junger Architekten bleibt heute vielfach die Aufarbeitung. Aufstockung und Ausbau, Erweiterung und Umbau, Umgestaltung und Umnutzung, Ergänzung und Revitalisierung lauten die Aufgaben, die aus so mancher voreiligen Gedankenlosigkeit auftragsverwöhnter älterer Jahrgänge resultieren – wenn noch etwas zu retten ist. Hoffnungsloser denn je scheint die Lage der Architektur in den Gewerbe- und Industriegebieten, den Wegwerflandschaften unserer Stadtkultur.

Hier von einem Reparaturfall zu sprechen, käme angesichts der flächendeckenden Verbrüderung von Umsatzkultur und Kulturverfall niemandem in den Sinn. Lange vor der 1965 von Alexander Mitscherlich und Christopher Alexander gegeißelten Auslagerung von Gewerbe und Industrie auf den Müllabladeplatz der Urbanität war die Verbannung der Architektur stillschweigend besiegelt, Revision nicht zugelassen. Jeder der Profiteure findet dafür ein Argument, das mit dem Gemeinwohl zu tun hat. Nicht von ungefähr ist Carsten Roth mit dieser heiklen Aufklärungsarbeit im Speckgürtel von Hamburg nur zufällig betraut worden, dank der „Gelben Seiten“ der Telekom. Mit einem ähnlich glücklich beauftragten zweiten Bau dieser Art in Hamburg Barsbüttel, dessen Fertigstellung kurz bevorsteht, erweist sich Carsten Roth als Hoffnungsträger mit ausgewiesenen Heilerfolgen. 

Anders als bei einem Ausflugsdampfer, dessen Urlaubsatmosphäre sich viele Stadtzentren mit ihrem Freizeit- und Luxussortiment immer mehr annähern, läßt sich die Antriebsmaschinerie der Stadt mit ihren flächenintensiven Gewerbe- und Industriegebieten nicht unterhalb der Wasserlinie verbergen. Die für die Gewerbesteuern so wichtigen, städtebaulich und architektonisch aber regelmäßig zweifelhaften Gewerbebauten umstellen die Stadt an ihrer Peripherie wie eine hastig errichtete Wagenburg. Stadtkultur, nur noch im Zentrum und dort sehr einseitig zu haben, will so, gleich aus welcher Richtung man kommt, mühsam erobert sein. Der im 18. Jahrhundert erdachte und in der Charta von Athen 1943 proklamierte hygienische Ansatz der Stadtplanung dokumentiert heute ein peinlich unvernetztes Denken, dem das Getöse und der Gestank der Produktion als zentrales Argument längst abhanden gekommen ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen beherrscht das architektonische Credo des Henry Ford die Profitzonen der Peripherie. 1922, im fünfzehnten Produktionsjahr des berühmten Modells T, schrieb der Industrielle seinen heutigen Manager- Kollegen einen wichtigen Lehrsatz des „Fordismus“ zur Senkung der Produktionskosten ins Stammbuch: „Wir denken nicht daran, prunkhafte Baulichkeiten als Symbol unserer Erfolge aufzuführen.
Die Bau- und Erhaltungszinsen würden nur eine unnütze Belastung unserer Produkte bedeuten – derartige Denkmäler des Erfolges enden gar zu oft als Grabmonumente… Wir ziehen es vor, durch unsere Produkte, statt durch die Baulichkeiten, in denen sie hergestellt werden, bekannt zu werden.“1) 75 Jahre später werden daraufhin noch die feinsten Computer und Kameras am Stadtrand in fensterlosen Containern gehandelt, die architektonisch nichts als Gedankenlosigkeit zum Ausdruck bringen. Walter Henn, der 85-jährige Nestor des deutschen Industriebaus, hatte dagegen immer wieder darauf hingewiesen, daß architektonischer Mehrwert mit der Motivation der Mitarbeiter auch den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens mehrt, mithin mehr einbringt als er kostet. Diese These konnte Carsten Roth seinen Bauherren in Siek wie in Barsbüttel offensichtlich eindringlich genug nahebringen. Entstanden ist dabei höchst Außergewöhnliches. Eine Architektur, die sich auf die Banalität ihrer Umgebung ganz konkret einzulassen hatte, in dieser unausweichlichen Integration ihre Kraft aber nicht verliert, sondern in einem Meer der Belanglosigkeiten endlich als markantes Vorbild und souveräner Schrittmacher auftritt.

Carsten Roth entwickelte seine Architektursprache schon bei seinem Hamburger Hinterhof-Atelier aus der intensiven Beschäftigung mit einer Autofabrik aus dem Jahr 1911. Was neu ist, will er nur begreifen, wenn darin auch künftig das Alte zu spüren ist. Im Gewerbegebiet von Siek, einem kleinen Ort wenige Kilometer östlich von Hamburg, manifestiert sich diese formal an die unorthodoxe Moderne eines Rudolf M. Schindler erinnernde Architekturhaltung idealerweise auf besonders heiklem Terrain – im Zusammenspiel mit einer bestehenden Industriehalle, die allein nicht die geringste Erwähnung wert wäre. Erst mit ihrem an der Straße vorangestellten Ausstellungs- und Verwaltungskopf wird sie zu einem bemerkenswerten zeitgeschichtlichen Dokument einer Bauepoche, die man nicht aus der Welt schaffen kann und soll, deren formale und städtebauliche Mängel aber auf geradezu furiose Art und Weise räumlich und gestalterisch zu beheben sind. Das Verfahren der architektonischen Schichtung, des unmittelbaren Ineinandergreifens sehr unterschiedlicher Epochen, Bauten und Architekturqualitäten – Fenster an Fenster – ruft eine Grundannahme von Jane Jacobs neu auf den Plan. In ihrem berühmten Band „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ forderte sie 1961 für Brooklyn den Fortbestand alter Industriegebäude als unverzichtbares Fundament, „um neue primäre Nutzungen auszubrüten“.2) Wäre es nicht phantastisch, unsere Gewerbe- und Industriegebiete nach dieser Leitlinie zu überdenken, funktional zu unterwandern, zu überbauen, zu verdichten und damit erst markant zu strukturieren? Bauwunsch und Baugrund sind oft genug vorhanden, weil Erweiterungsabsichten nachzukommen ist, die schon auf einem schmalen Distanzstreifen zur Straße (und wenn es nur eine Stellplatztiefe ist) einen völlig neuen architektonischen Auftritt garantieren. In Barsbüttel beträgt die Bautiefe der vor die zweigeschoßige Fertigungs- und Lagerhalle gesetzten dreigeschoßigen architektonischen Schale nur fünf Meter plus wechselnde Auskragungen auf beiden Seiten. Der Vergleich mag angesichts der so unterschiedlichen Bautypen Gewerbebau und Stadtpalast vermessen sein, aber Palladios Basilika in Vicenza entstand ebenso erst nachträglich: als Einfassung eines vorhandenen Palastes mit Arkadenreihen und deren berühmtem „Palladio-Motiv“. Die Methodik des Weiterbauens ist seit langem eingeführt, nur wird sie leider viel zu wenig und noch viel seltener wirklich kunstvoll betrieben. In Siek setzt ein Betrieb für Ladenbau seinen neuen Ausstellungs- und Planungsbereich zur Selbstdarstellung und darüber hinaus zur weiteren Zielfindung ein. Inzwischen schmückt ein Foto des Gebäudes den Auftritt der Firma im Internet. Damit relativiert sich – allen Zweiflern zum Trotz – die publikumsferne Lage des Gebäudes, für die es zwar wie beim Steuerberater oder Party-Service gegenüber kein schlüssiges Argument gibt, die aber politischen und ökonomischen Sachzwängen folgt, die im Alleingang nicht zu umgehen sind.

Architektonisch zielt Carsten Roth auf eine Einheit aus innenräumlicher und baukörperlicher Brisanz, verdeutlicht in der Variation der Öffnungen und Materialien. Die im Vergleich mit anderen Arbeiten ungewohnt freie skulpturale Wirkung beruht hier auf der Auseinandersetzung mit dem Grundstück und seiner maximalen Ausnutzung. Zulässig waren zwei Geschosse. Der amtliche Lageplan weist nach, wie eng die Hauptfront nach Nordosten der Baugrenze und dem Straßenverlauf angepaßt ist. Außerdem – auch das zeigen die Fotos nicht – waren auf dem Grundstück zehn Stellplätze nachzuweisen und die Anlieferung mit ausgewachsenen Sattelschleppern entlang der Eingangsfront beizubehalten. Aus diesen Zwängen resultiert das fragmentarische Ornament, das die nur durch zwei vereinzelte, noch dazu verspringende Stützen gesicherten Unterzüge unter der Auskragung am Eingang bilden. Ein derartiger „Tanz in Ketten“ (Fritz Schumacher) ist für Carsten Roth, anders als vermutlich für den zuständigen Statiker, kein Akt der Verzweiflung sondern willkommene Gelegenheit, dem Bau aus dessen spezifischen Bedingungen heraus Eigensinn zu belassen und damit Unverwechselbarkeit zu gewinnen. Die Übereinkunft, daß Stützen aufeinander zu stehen haben, gilt dem Architekten in der Besonderheit des Einzelfalls dann schlicht weniger – immerhin zum Nutzen der Parkplätze. Ebenso läßt sich auf konventionelle Blechabdeckungen zur Abdichtung von Betonkanten im Dachbereich verzichten oder auf die vermeintlich optimale Strahlungswärme von wiederum „falsch“ montierten Heizkörpern. Das wegen seiner innen wie außen akkurat geführten Ankerlöcher sehr schwer zu gießende Treppenhaus besteht aus monolithischem Beton, bietet aber für den Wärmeschutz der Aufenthaltsräume rechnerisch zwei Schalen zu je 35 cm auf. Die Fließfähigkeit des auch im weiteren eingesetzten wärmedämmenden Sichtbetons wurde unter ständiger Laborüberwachung zu Lasten der Dämmfähigkeit, aber zugunsten einwandfreier Oberflächen verbessert. Auskragungen, die gar keine sind, lassen sich mit „wilden“ Balkenlagen (am Eingang) ebenso gewinnen wie mit Druckstäben, die sich gegen ein Widerlager darüber abstützen (Brisesoleil der Südfassade). Sind wenigstens die Materialien echt? Nein. Im Ausstellungsbereich des Erdgeschoßes, dessen obere Glasflächen zur Variation bedruckt sind, weist der Architekt verschmitzt auf einen Beton-Unterzug, der vom Maler geschaffen wurde. Denn der Neubau entstand bei laufendem Betrieb über dem alten Büroanbau, so daß an dieser einen Stelle nicht betoniert werden konnte. Auch die Kupferhaut des rückwärtigen Galerie-Korpus wahrt lediglich mit sehr viel Anstand den Schein. Das schwierige Experiment einer Kupferfassade, die ihren Glanz auf Dauer beibehält, erwies sich in der Praxis als vorerst unrealistisch. So ergänzt den schwierigen Part des wärmedämmenden Sichtbetons und die, den Glasflächen gleich, horizontal betonte Zinkfassade eine Aluminiumfassade, die der Autolackierer nur dem Farbton nach zum unpatinierten Kupfer veredelte. Deren Qualität läßt sich im Innenraum hinter der südlichen Glasfront bestaunen. So sind es nicht nur einige formale Parallelen, die den Hinweis auf Schindler rechtfertigen. Es ist vor allem die Nonchalance im Umgang mit der Glätte und Kälte der als klassisch geltenden orthodoxen Moderne, die hier als Regelwidrigkeit interpretiert werden könnte. Dabei reicht der Maßstab heute von nach ökologischen Kriterien in doppelte Glashäute eingefrorenen „Eisblöcken“ bis zu freien Formen, die, kaum zu bauen, ihren Tanz nicht von einer einzigen Bindung bzw. Kette stören lassen wollen. Dazwischen lag und liegt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem architektonischen Raum, seiner Orientierung und Lichtführung wie nicht zuletzt seiner daraus resultierenden Körpersprache, die das Innere in anmutigen Bewegungen nach außen trägt. Diesen im Zusammenhang mit einem Altbau schwierigen, in der Auseinandersetzung mit einem schäbigen Industriebau überaus subtilen Weg mit der Frage nach Regelwidrigkeiten zu verstellen, wäre – nach dem Internationalen Stil nicht zum ersten Mal – ein Angriff auf die Poesie architektonischer Raumkunst. Nur mit Mühe nahm Neutras Haus Lovell in Los Angeles die Hürde, die Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson in ihrem Band „Der Internationale Stil“ 1932 aufrichteten: „Die Architektur baut auf der sichtbaren Regelmäßigkeit der Tragstruktur auf, wird allerdings durch unterschiedliche Vorsprünge und durch den verwirrenden Gebrauch von Metall- und Putzfüllungen verkompliziert“.3) Schindler, der Raum, Ordnung und Proportion noch hartnäckiger von der Maschinenästhetik trennte und schon 1912 ein Programm der Modernen Architektur verfaßt hatte, kam ohnehin nicht vor: „Das Wesen des Lebens jedoch ist Variation, in direktem Kontrast zu der begrenzten Kraft der Maschine. Das Haus, das uns hilft uns auszudrücken, muß weitere Variationen zulassen. Es muß vierdimensional sein.“4) Kommt es nicht einer späten Rehabilitation dieses Architekten gleich, wenn Carsten Roth ausgerechnet mitten im Vulgärfunktionalismus der Gewerbe- und Industriegebiete Raum-Architektur verwirklicht?“

Quellennachweis:
1) Henry Ford: Mein Leben und Werk (1922), Leipzig 1923, S.43
2) Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1961), Braunschweig 1976 (Bauwelt-Fundamente 4), S. 117
3) Henry-Russell Hitchcock, Philip Johnson: Der Internationale Stil (1932), Braunschweig 1985 (Bauwelt-Fundamente 70), S.157
4) Rudolf M. Schindler, zit. nach: August Sarnitz: R. M. Schindler, Architekt 1887-1953, Ein Wagner-Schüler zwischen Internationalem Stil und Raum-Architektur, Wien 1986, S. 9

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von
Klaus Dieter Weiss und Springer Verlag, Wien – New York
„Körpersprache“, erschienen in „architektur.aktuell“ Nr. 03/1998