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Haus Thiede

Erinnern und erfinden: Haus Thiede in Volksdorf

„Die Villa oder das Einfamilienhaus – sind sie Maß aller Dinge, Mikrokosmos aller möglichen Entwurfsgedanken und Raumerfindungen? Klaus-Dieter Weiß wagt einen Parforceritt durch die Geschichte des Einfamilienhauses.“

Von Klaus Dieter Weiss
„JAHRTAUSENDWECHSEL: Während die Studenten von Hans Kollhoff an der ETH Zürich lernen, sich gegen weiß getünchte Galerieräume und Gefängniszellen im Schein von Glühbirnen aufzulehnen, um als Dienstleister und nicht Moralapostel die Sehnsucht nach Gemütlichkeit mit den Mitteln unserer Altvorderen zu stillen: mit Decken- und Wandvertäfelungen aus lackierten Ulmenholztafeln, mit Zitronen-, Birnen-, Kirschholz, poliertem Marmor, Messingbeschlägen, Kristallglas oder bedruckter Seide in Mahagonirahmen, mit umlaufenden Stuckkanten und angeputzten Vouten, mit Deckenlampen aus transluzentem Gussglas und brünierten Bronzeeinfassungen in Frühstückszimmern, Bibliotheken, Rauchsalons, Sesselzimmern, Separees, Boudoirs … , kann es Carsten Roth nicht lassen. Der moderne Intellektuelle ist unverbesserlich: »Aufgeklärt und athletisch gibt er eine asketische Existenz vor, die konsequent in eine Ästhetik des Verzichts mündet, und er predigt diese Ästhetik, moralisch aufgeladen, versteht sich, dem Volke. So er sich’s leisten kann, lebt er aber in alten Häusern und geschmackvoll üppig ausgestatteten Wohnungen, in einem gemütlichen Zuhause.« Ankläger ist Hans Kollhoff, als Schöffen treten neun Studenten aus dem gerade zitierten Kurs für Entwurf bzw. Wohnungsdekoration auf, die Klageschrift ist unter dem Titel »Wohnen« letzten November an der ETH Zürich erschienen.

Der Einstieg in diesen Fall wäre auch umgekehrt denkbar gewesen. Das Plädoyer der Verteidigung: Mit dem wachsenden Interesse an leichten Konstruktionen (dokumentiert z.B. vor fünf Jahren in der Ausstellung »Light Construction« des Museum of Modern Art in New York), mit der Verbindung von Natur, Ökologie, minimaler Ästhetik und nomadischen Lebensstilen erstrahlt die Nachkriegsmoderne, der Optimismus und die Radikalität der Fünfziger Jahre, in einem neuen Glanz. Die populäre Case- Study-House-Retrospektive »Blueprints for Modem Living« 1989 in Los Angeles ist immer noch präsent, der Katalog neu aufgelegt. Neue, universale Baugedanken ganz im Sinne heute realisierbarer Visionen von Buckminster Fuller entzweien Stilisten und Strukturalisten. Ökologie und Ökonomie finden in der Architektur eine weitreichende Synthese. Die funktionale Effektivität der Weltressourcen wird durch Design sichtlich gesteigert. Ununterscheidbare Schuhschachteln, teuer aufgemöbelte, aber uninspirierte Salons und Squashplatz-ähnliche Enfiladen weichen einer neuen, heute bauphysikalisch sicheren Unbegrenztheit der Form.

Der trockenen Orthodoxie vergangener Tektonik folgen dynamische Lebensräume, ein Innen und Außen im komplexen Gleichgewicht. Raumgrenzen lösen sich in Schichten, Membranen und Filter auf. Gemäß der 1955 von Colin Rowe und Robert Slutzky verfassten Definition von Transparenz wandelt sich das Röntgenbild der Totalverglasung (Edith Farnsworth) zu einer phänomenalen Transparenz im übertragenen Sinne, die Form zu fluktuierenden, mehrdeutigen Konfigurationen organisiert – auf den Inhalt zielend, nicht auf Form und deren Bedeutung. Form ist damit weder Selbstzweck noch Ergebnis des Entwurfsprozesses, sondern Instrument des Entwurfs. Nutzung und Form eines Gebäudes werden zwei unterschiedliche Ausprägungen der gemeinsamen Basis Raum. Dahinter verbergen sich keine architektonischen Revolutionen. Der Raumschachtel-Verächter Frank Lloyd Wright arbeitete nach der Leitidee: »Form und Funktion sind eins«, Laszlo Moholy-Nagy formulierte seine These »Seeing everything in relationship« 1947. 1944 hatte Piet Mondrian nach der Kultur der Einzelformen die Kultur bewusster Beziehungen proklamiert, im selben Jahr wurde das Case Study House ins Leben gerufen. Über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren leisteten etwa fünfzig junge, viel versprechende Architekten Entwicklungsarbeit: u. a. Charles und Ray Eames, Richard Neutra, Raphael Soriano, Pierre Koenig, Craig Ellwood. Damals wurde genau das gebaute Realität, was sich heute die 7. Internationale Architektur-Biennale in Venedig nur als blasse, schnell missverstandene Ausstellungsidee leisten kann: »Less Aesthetics, more Ethics«. Marco De Michelis plädierte unter dieser Zielsetzung kürzlich für eine Architektur der Gegenwart: für ineinander übergehende Räume, ungleichmäßige Formen, verschwimmende Grenzen, instabile Beziehungen zwischen Innen und Außen.  

Der Kontrast zur Glorifizierung der Historie durch Übernahme ihrer Formen und Dekorationen bei Hans Kollhoff ist nicht krasser vorstellbar als in der räumlichen und sozialen Qualität der »Formlosigkeit« bei Carsten Roth. Aus dem statischen Objekt Haus entsteht mit dem Haus Thiede ein dynamisches Gefiüge – ohne komplizierte Details und dekonstruktivistische Verrenkungen. »Leben spielt nie, sprießt nie in einem Vakuum oder in einem Ornament, wie Hans Poelzig Mies van der Rohe vorhielt, sondern in einer irgendwie balancierten, obwohl sich dauernd wandelnden Fülle von Beziehungen. Ökologie nennen die Wissenschaftler dieses beziehungsreiche Gleichgewicht zwischen Lebewesen und seiner Umgebung.« Mit diesen Worten führte Richard Neutra den durch seinen Bauherrn Philip Lovell, einen Naturtherapeuten, mitgeprägten Begriff »Biorealismus« ein, zwanzig Jahre vor der Energiekrise. Neutra betrieb die Auflösung des Raumes, sein Hauptthema, mithilfe von in den Eckpunkten stumpf gestoßenen Glasscheiben, mit Tragbalken, die wie Spinnenbeine vor die Fassade springen, mit Dachvorsprüngen, die in der Gegenrichtung auskragen, mit spiegelnden Wasserflächen unmittelbar an der Fassade. Carsten Roth arbeitet dagegen viel intensiver mit dem Baukörper, mit Schichtungen, Ausbrüchen, Rücksprüngen, Lichtadern, Ausgucken, unterschiedlichen Ebenen noch im Schlafraum. Die Leichtigkeit seines Hauses ist keine des Materials, wie sie die südkalifornische Nachkriegsmoderne in Anlehnung an die Flugzeugindustrie mit Aluminium, Sperrholz und innovativen Baustoffen realisieren wollte.

Architektonische Leichtigkeit erreicht Roth in faszinierender Art und Weise allein durch Komposition. Das verbindet seinen Ansatz mit dem des Außenseiters Rudolf Schindler: »Das Haus der Zukunft ist eine Symphonie räumlicher Formern – jeder Raum ein notwendiger und unvermeidlicher Teil des Ganzen. Konstruktive Materialien, Wände, Decken, Böden sind nur Mittel zu einem Zweck: der Definition von Raum-Formen«. Schindler entwickelte Wrights Intentionen von der »Zerstörung der Schachtel« im Konzept der räumlichen Kontinuität und Transparenz weiter. Bautechnik ist dabei Mittel zum Zweck, sie dient allein dazu, architektonischen Raum zu kreieren. Entgegen üblicher Praxis wird der Entwurf nicht den industriellen Mitteln zu seiner Ausfuhrung untergeordnet. Im Unterschied zur konstruktiven Linie seiner Zeitgenossen Neutra und Mies van der Rohe zog Schindler dem Stahlrahmentragwerk – nicht zuletzt aus Kostengründen – die tragende Wand vor, ein Schritt zu einer höheren baukörperlichen Komplexität, der ihn aus der Clique der frühen Modernisten und dem Case Study House Programme ausschloss. Die Verbindungslinien zwischen Schindler und Roth sind vielfältig, erklären aber nicht alles. Charakteristisch für Schindler wie für Roth ist die Strategie, Bestehendes aufzugreifen, zu integrieren, statt es zu beseitigen. Beide Architekten favorisieren differenzierte Außenräume als Erweiterung der Innenräume, den freien Aufriss, das Langfenster, wechselnde Raumhöhen, ein Proportionssystem für Grundriss und Fassade, die aufgelöste Betonkonstruktion… und kalkulierte Überraschungsmomente. Wie Schindler setzt Roth ausdücklich nicht auf asketische Strenge, entsagungsvolle Ästhetik oder die von Kollhoff mehrfach beschworenen weiß getünchten Gefängniszellen mit Glühbirne. Wie Schindler hätte Carsten Roth sogar dann eine Antwort parat, wenn dem Baurecht oder dem Bauherrn ein geneigtes Dach nicht länger vorzuenthalten wäre. Die Geschichte des modernen Wohnhauses ist nicht für demagogische Versuche mit Studenten der eingangs geschilderten Art zu gebrauchen. Die Häuser von Neutra, an deren Stahlskelett verputzte Platten hängen, die wie Beton wirken, gelten als behaglich und luxuriös. Kenneth Frampton zitiert das Lob eines Laienpublikums, dem das populäre Vorurteil über die modernistische Architektur, das sich Kollhoff zu Eigen macht, zuvor sehr vertraut war. Schindlers vor Ort in Betonscheiben gegossene, oft auch im Dach kaskadenartig aufgebrochene Wohnhäuser werden als intim und besonders einfühlsam geschätzt. Gerade Schindlers Befreiung vom zwanghaften »Weniger ist Mehr«, von der knappen Korrektheit des Stahlrahmens, bietet heute im viel höheren Individualisierungsgrad unvergleichlich mehr Charme und Ausstrahlung. Kenneth Frampton, im Allgemeinen kein großer Bewunderer von Schindler, kommt nicht umhin, zumindest in einem Fall, die wegweisende Bedeutung dieser Architektursprache anzuerkennen, indem er eine Würdigung der Zeitschrift A + U zitiert. Da dieser Passus von Henry Plummer fast ebenso dem Haus Thiede gelten könnte, soll er hier für eine Architekturauffassung stehen, die in Deutschland für die Bauaufgabe Wohnhaus unbekannt ist. »Das kristallinweiße Haus Buck von Rudolf Schindler ist ein komplexer Formenbereich, bestehend aus vorspringenden und sich locker überschneidenden Ebenen und Ecken. Wie bei einem De-Stijl-Gemälde sind die Negativformen, die immateriellen Leerräume und Spalten, wichtige, wenn nicht entscheidende Elemente der Komposition … Die zahlreichen Ebenen und Ecken bilden ein sich ständig wandelndes mobiles Gefüge, dessen ineinan¬der verwobene Flächen sich im Verlauf unserer Bewegung neu gestalten, ein kinetisch befrachtetes, jedoch wohlgeordnetes Gleichgewicht aus gebrochenen stereometrischen Fragmenten.« Haus Thiede ohne Seitenblicke zu beschreiben würde dem Stellenwert dieser Architektur, die theoretisch verankert ist und auf vielfältige Entwicklungen reagiert, nicht gerecht. Dieses Haus lässt sich lesen und ergründen wie ein raffinierter Roman, der den Leser zur Hauptfigur bestimmt. Dramatischer Auftakt: das unerwartete Tiefenwachstum des Hauses in die Schlucht des abgesenkten Gartenhofes. Der Traum vom Glas weicht dem Traum von Raum und Schleier, unübertroffen in einer Raumsequenz des Obergeschosses: Essplatz/Küche-Glaswand-Loggia/ Terrasse-»Fassadenfenster«. Die neutrale Nutzbarkeit der Schachtel wird überwunden durch Komplexität und Interpretationsreichtum eines spezifischen Raumgefüges, das nicht Askese fordert, sondern unvoreingenommen empfängt und aufnimmt, wen oder was auch immer. Wie viel architektonisches Neuland dieses Haus erschließt, bei allen Querverweisen, zeigt die Tatsache, dass selbst Architekten vom Range Kollhoffs daran nicht mehr glauben. Das alles auf einem Gartengrundstück ohne jeden Öffentlichkeitswert. Die im Vergleich zur südkalifornischen Moderne erbärmlichen, unter der Schirmherrschaft der Illustrierten Stern entstandenen Fertigprodukte belegen nur eins sehr deutlich: Weitgehend ohne vergleichbaren architektonischen Anspruch und in ihrer Holzbauweise konstruktiv in keiner Weiser vergleichbar, sind diese Häuser im Schnitt pro Quadratmeter nur 400 DM billiger als ein raffiniertes Unikat von Carsten Roth. Doch erst, wenn man in Deutschland wieder bemerkt, dass Architektur nicht aus Vertäfelungen und Kandelabern zu destillieren ist, sondern allein mithilfe von Raum, Weg und Proportion eine beglückende Atmosphäre schafft, die ohne Möbel und Luxus auskommt, wird man diese frohe Botschaft begreifen.“  

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von
Klaus Dieter Weiss und Junius Verlag, Hamburg.
„Erinnern und erfinden: Haus Thiede in Volksdorf“
erschienen in “Architektur in Hamburg Jahrbuch 2000″