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Logistikzentrum Optimal Media

Logistik / Fulfillment-Center

Von Klaus Dieter Weiss
„Wenn Carsten Roth zwischen den 650 Seen der mecklenburgischen Seenplatte in einer Stadt von 7.000 Einwohnern, irgendwo zwischen Wald, Wasser und Wiesen ein Warenlager baut, dann trauert er nicht den Aufgaben in Metropolen nach, sondern versenkt sich in das Gegebene, als gäbe es nichts anderes. Selbst wenn jeder Produktionsprozess mit Siegfried Kracauer „öffentlich im Verborgenen“ abläuft, geht es immerhin um einen Arbeitsort, der Leben und Alltagserfahrung von etwa fünfhundert Menschen bestimmt. In diesem Fall nicht nur tagsüber, sondern in Schichten rund um die Uhr. Die boomende Firma Optimal Media Produktion, die Datenträger fertigt und vertreibt – CDs, LPs und DVs voller Musik, Bilder und Software -, führt die sprichwörtliche Verspätung der mecklenburgischen Seele, die sich nie von den Errungenschaften der Moderne überrollen lieb, ad absurdum. Der Bauherr aus dem Westen weiß, dass es nicht nur darauf ankommt, was man tut, sondern auch, wie man es tut. Denn entscheidend ist nicht nur neueste Technologie, sondern auch die gute Stimmung der Mitarbeiter. Mit anderen Worten: Architektur  

Carsten Roth macht sich nicht abhängig von der oberflächlichen Bedeutung eines Standortes, es geht ihm immer um die Grundsätzlichkeit der Aufgabe, um Bausteine, die nicht folgenlos bleiben: für das Weiterdenken im eigenen Büro und für das Bewusstsein derer, die das Ergebnis durchdringen oder bewusst erleben. Die Bearbeitungstiefe reicht hier vom Masterplan bis zu Gestaltungsregeln für die Kanale und Rohre der Haustechnik unter der Decke. Nie stand für Carsten Roth zur Debatte, das benachbarte, schon 1999 gebaute Druckerei- und Servicegebäude mit seiner Fassade aus gelochten Aluminium-Dachelementen zum architektonischen Systembaustein dieser boomenden Industrie zu machen. Jede Wiederholung hatte dem Ursprungsbau Kraft genommen. Was vor zehn Jahren mit zwanzig Mitarbeitern als reines Presswerk bzw. Fertigungswerk zur Datenreplikation begann, entwickelte sich rasend schnell zum sogenannten Fulfillment-Partner der Medienindustrie. Neben Distributionsauftragen der Hamburger Muttergesellschaft Edel Music – mit 1.100 Mitarbeitern und 1.183 Millionen Mark Umsatz der gröBte unabhängige Musikkonzern Europas – werden zunehmend Logistikleistungen für freie Distributionskunden erbracht. Die 100 Millionen CDs und DVDs, 4,5 Millionen LPs und 4,5 Millionen MCs, die das Werk jährlich fertigt, werden über 2.500 Aufträge täglich weltweit ausgeliefert. Da innerhalb weniger Stunden nachproduziert werden kann, reduziert sich der notwendige Warenbestand des größten konzernunabhängigen Fertigungsbetriebs für CDs, Schallplatten und Musikkassetten in Deutschland auf ein Minimum. Der computergesteuerte Roboter des HochregaIlagers ist so intelligent, dass er tagsüber die Nachfrage einzelner Titel registriert, um nachts für ein noch höheres Auslieferungstempo am Folgetag das gesamte Lager umzuschichten. So beeindruckend diese Technik ist, so gering war bisher ihre architektonische Brisanz. Bei Carsten Roth ist das anders. Sein Hochregallager, zu einer Gebäudeeinheit mit Verpackung, Distribution und Werkseingang samt Empfang verknüpft, hat Öffnungen und zeigt ein Gesicht. Von außen ist der Betrieb im Inneren zu ahnen, denn die Gussglasfelder, Fensterbänder oder Doppelstegplatten wirken wie Kinoleinwände, die das Innere nach außen projizieren, mal klar und deutlich, mal verfremdet durch die Linsenwirkung der jeweiligen Glasschicht, immer aber lediglich ausschnittweise und verrätselt. Über die anthrazitfarbene Aluminiumfassade hinaus liegt darin eine gedankliche, aber keine formale Parallele zum ersten Bau. Der letzte Clou von Lichtführung und Fensteranordnung im Bereich des Hochregallagers wird erst im benachbarten Druckerei- und Servicegebäude sichtbar. Der ursprüngliche Ausblick aus dem dortigen Konferenzraum nach Süden, den der Neubau vereitelt hatte, ist dadurch gewahrt, dass die beiden parallel angeordneten überformatigen Glasflachen an den Schmalseiten des Hochregallagers den Blick quer durch das gesamte 80 m tiefe Gebäude erlauben, vorbei an den gebäudehohen Palettenregalen für den manuellen Gabelstaplerzugriff. Derartig raffinierte Problemverknüpfungen, die Rationalität immer auch auf den Menschen beziehen, waren im Übrigen innerhalb eines konkurrierenden Verfahrens der Auslöser der Beauftragung.  

Im konkreten Bezug auf den einzelnen Mitarbeiter des Unternehmens entwickelte Carsten Roth mit dem Neubau des nach Westen um 100% erweiterbaren Logistikzentrums einen Masterplan, der das zu Beginn eher ungeplant explodierende Unternehmen auf eine neue Basis stellt. Unter Vernachlässigung des bisherigen Firmenparkplatzes auf dem Grundstück des Neubaus verlegten die Architekten den Haupteingang des Unternehmens quer zur Werksstrasse, dem Rückgrat der Anlage, von Osten nach Süden. Damit bekam die Firma einen im Vergleich zu den ersten Bauabschnitten architektonisch weit markanteren Auftritt. Gleichzeitig verdichteten und optimierten sich in dem mehrgeschossigen Industriebau aber auch die Produktionsabläufe. Lager, Verpackung und Distribution sind eng verzahnt, obwohl der Zugang von Mitarbeitern und Besuchern im Obergeschoss kreuzt. Die angehobene canyonartige Eingangsschlucht, die den Blick bis auf die durch eine luftige Gebäudebrücke angebundene Druckerei freigibt, durch Oberlichtbänder aber auch Einblick in das Erdgeschoss des Logistikzentrums gewährt, trennt das nahezu quadratische und damit sehr effektive Gebäude von 92 x 80 m scheinbar in zwei separate Einheiten. Die an den auch als Pausenbereich genutzten Einschnitt angrenzenden Fassaden sind daher als Entree von besonderer Bedeutung. Der flache Gebäudeteil schwingt in zwei vorkragenden Zonen aus. Das Hochregallager zeigt über den in der Eingangsachse wie Vitrinen angebotenen Oberlichtem des Erdgeschosses einen Lichtfänger aus Zinkblechen, der sich ohne die notwendigen Schiebenähte ebenfalls plastlsch artikuliert. Gegenüber wiederholt sich aus Sicherheitsgründen die Erschließungsachse im Gebäude, kontrolliert durch das Personal am Empfang. Augen und Füße der Mitarbeiter gehen so zwischen Firmenparkplatz und den Sozialräumen in der Druckerei zeitweise getrennte Wege, der Canyon draußen ist durch ein nahezu unsichtbares Netz aus Stahlseilen gesichert. So abwechslungsreich und spannungsvoll kann auch im Industriebau Räumlichkeit entstehen – bis zur Dramatik der beiden als Betonskulptur verstandenen Fluchttreppenhäuser. Schwebende Galerien, eingehängte gläserne Bürotrakte, Glashäuser, die noch das Erdgeschoss über Dach belichten, machen aus dem Logistikzentrum für Datenträger fast einen Veranstaltungsraum, in dem Orange Blue, Craig David, Baha Men oder andere Stars von Edel Music auch live auftreten könnten. Verheißt doch schon der Empfang in seiner vomehmen Farbigkeit und Materialität einen kulturellen Inhalt. Selbst die Fassaden sind Beleg dafür, dass das Taylor-System, das Kracauer noch dafür tadelte, die Beine der Tillergirls mit den Händen in der Fabrik gleichzusetzen, hier ebenso ästhetisch wie produktiv überwunden werden konnte.“ 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von
Klaus Dieter Weiss und Springer Verlag, Wien – New York
„Choreographie der Produktion“, erschienen in „architektur.aktuell“ Nr. 05/2001